Cicero: Pro Archia

Übersetzung von Rainer Lohmann

Ciceros Rede Pro Archia stammt aus dem Jahr 62 v. Chr. Mit dieser Rede übernimmt er die Verteidigung des Dichters A. Licinius Archias, der sich gegen die Anklage verteidigen muss, er habe das römische Bürgerrecht unrechtmäßig erworben und somit gegen die Bestimmungen der lex Papia de civitate aus dem Jahr 65 v. Chr. verstoßen, durch welche die Möglichkeit geschaffen wird, das einmal verliehene Bürgerrecht wieder zu entziehen, falls eine Ungesetzlichkeit bei seinem Erwerb erkennbar ist. Cicero versucht mit seiner Rede die Anschuldigungen des Klägers Grattius gegenüber seinem Mandanten als gegenstandslos zu erweisen und seinen Freispruch zu erwirken.

Aufbau und Einordnung der Rede

Überblick

Die Rede Pro Archia ist ein lesenswerter Text: Sie beschränkt sich nicht auf die Verteidigung des Dichters Archias gegen den an ihn gerichteten Vorwurf der Erschleichung des römischen Bürgerrechts, sondern sprengt diesen engen Rahmen durch die Aufnahme eines umfangreichen Lobpreises der Geistesbildung, der nicht um seiner selbst willen hier erscheint, sondern dem letztlich eine argumentative Funktion im Gesamtgefüge der Rede zukommt. Diese epideiktischen Stücke haben zu der Bekanntheit dieser Rede beigetragen und sind ein Zeugnis für die Bedeutung der Literatur mit Blick auf das Selbstverständnis eines Volkes.

Ciceros Rede wird ihre Wirkung auf das Geschworenengericht, dem Ciceros Bruder als Prätor vorstand, nicht verfehlt haben. "Der großartige Rahmen bewirkt, daß sich die kleine Frage nach dem Bürgerrecht des Dichters wie von selbst beantwortet: Wenn er es nicht schon hätte, müßte man es ihm um seiner Dienste willen verleihen." (Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur I, München 1994, S. 419)

Der Aufbau der Rede folgt den Gesetzmäßigkeiten der rhetorischen Tradition: Auf das exordium (1-3) folgt eine knappe propositio (4a), die in die narratio (4b-7) einmündet. Die sich anschließende argumentatio umfasst zwei Teile: Im ersten Teil (8-11) geht es um den eigentlichen Gegenstand des Verfahrens, den Nachweis des rechtmäßigen Erwerbs des römischen Bürgerrechts durch den Angeklagten, der zweite Teil (12-30) hat den Charakter einer Digression mit einer ausführlichen Einlassung Ciceros zu der Relevanz literarischen Schaffens. Beendet wird die Rede mit einer peroratio (31-32), die das Plädoyer Ciceros für den Angeklagten enthält.

Exordium

Im exordium (1-3) versucht der Redner die Sympathie seiner Zuhörer zu gewinnen, in diesem Fall ausgehend von der Person des Angeklagten. Cicero hebt in seinen einleitenden Bemerkungen den prägenden Einfluss des Archias auf seinem Weg zum Redner hervor und betrachtet dieses Verdienst als eine Verpflichtung, nun seinerseits dem bedrängten Dichter beizustehen: Quodsi haec vox […] non nullis aliquando saluti fuit, a quo id accepimus, quo ceteris opitulari et alios servare possemus, huic profecto ipsi […] et opem et salutem ferre debemus. (1) Gleich zu Beginn preist Cicero Archias' Dichtkunst und seine Gelehrsamkeit (pro summo poeta atque eruditissimo homine: 3), durch die er sich herausgefordert fühlt, die durch die Tradition vorgegebenen Maßstäbe für die Komposition einer Rede zu verlassen und sich als Reaktion auf die Besonderheit des vorliegenden Falles einer unkonventionellen Redeweise (prope novo quodam et inusitato genere dicendi: 3) zu bedienen.
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Propositio

Nach einer kurzen Mitteilung des Beweiszieles in der propositio (4a), dass Archias in jedem Fall das römische Bürgerrecht verdient habe, auch wenn er wider Erwarten kein römischer Bürger sein sollte (A. Licinium non modo non segregandum, cum sit civis, a numero civium, verum etiam si non esset, putetis asciscendum fuisse: 4a), geht Cicero in der folgenden narratio detailliert auf wesentliche Stationen der Lebensgeschichte des Archias ein und erzählt von dem Ruhm seines Talentes (ingeni gloria: 4b), der ihm in seiner Geburtsstadt Antiochia zuteilwurde, von seiner Wertschätzung (et omnes, qui aliquid de ingeniis poterant iudicare, cognitione atque hospitio dignum existimarunt: 5), die ihm einzelne Gemeinden in Großgriechenland mit ihrer Verleihung des Bürgerrechts entgegenbrachten, und von seiner Aufnahme in die Familie der Lukuller nach seiner Übersiedlung nach Rom unter dem Konsulat des Marius und Catulus 102 v. Chr. Durch seine Gelehrsamkeit und seinen Charakter imponierte Archias den Lukullern und blieb ihnen bis ins hohe Alter verbunden: Sic etiam hoc non solum ingeni ac litterarum, verum etiam naturae atque virtutis, ut domus, quae huius adulescentiae prima fuit, eadem esset familiarissima senectuti. (5) So hatte er es auch einem Lukuller zu verdanken (idque […] tum auctoritate et gratia Luculli ab Heracliensibus impetravit: 6), dass er in die Bürgerliste der Stadt Herakleia eingetragen wurde, einer aufgrund besonderer Verträge mit Rom aufs Engste verbündeten Stadt am Golf von Tarent, deren Bewohner den Römern nahezu gleichgestellt waren.
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Narratio

Mit der narratio (4b-7) bereitet Cicero seinen Beweisgang vor und konzentriert sich dabei auf die Informationen, die für ihn hinsichtlich der Realisierung seines Beweiszieles von Belang sind. Sein abschließender Hinweis auf die Lex Plautia Papiria aus dem Jahr 89 v. Chr. ruft den Zuhörern noch einmal die Bedingungen in Erinnerung, die zur Erlangung des römischen Bürgerrechts erfüllt sein mussten: der Eintrag in die Bürgerlisten verbündeter Gemeinden, ein Aufenthaltsort in Italien zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes und die Meldung beim Prätor in Rom binnen sechzig Tagen. (7)
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Erster Teil der Argumentatio

Im ersten Teil der argumentatio (8-11) entkräftet Cicero Grattius' Einwände gegen den rechtmäßigen Erwerb des römischen Bürgerrechts durch A. Licinius, indem er nachweist, dass die in der Lex Plautia Papiria genannten Voraussetzungen zur Vergabe desselben von seinem Mandanten erfüllt seien. Dass er Aufnahme in die Bürgerliste der mit Rom assoziierten Stadt Herakleia gefunden habe, belege das aufrichtige mündliche Zeugnis des M. Lucullus, der sich maßgeblich für Archias in dieser Angelegenheit eingesetzt habe. Das Gegenargument, Archias' Name sei in den Bürgerlisten von Herakleia nicht verzeichnet, erscheint Cicero nahezu absurd, da im Italischen Krieg (91-88), in dem die Bundesgenossen Roms um ihre Gleichberechtigung kämpften, das Archiv angezündet worden sei und damit sämtliche Bürgerlisten verloren gegangen seien. Die Glaubwürdigkeit der Aussage eines angesehenen Zeugen zählt für Cicero mehr als ein fehlender schriftlicher Nachweis: est ridiculum ad ea, quae habemus, nihil dicere, quaerere, quae habere non possumus, et de hominum memoria tacere, litterarum memoriam flagitare […] (8)

Bezüglich der zweiten und dritten Bedingung der Lex Plautia Papiria führt Cicero aus, sein Mandant habe bereits lange vor der Verleihung des Bürgerrechts Rom als seinen Wohnsitz gewählt und sich rechtzeitig gemäß der Bestimmung des Gesetzes beim Prätor Metellus binnen sechzig Tagen öffentlich gemeldet, wie dessen Liste auch beweise. Die Einlassung des Grattius, der Name des A. Licinius Archias finde sich nicht in den Steuerlisten, entkräftet Cicero durch den Hinweis, sein Mandant habe sich während der fraglichen Steuerperioden gar nicht in Rom aufgehalten und könne somit auch nicht Aufnahme in die Steuerlisten gefunden haben. Entscheidender ist für Cicero im Sinne der Wahrheitsfindung, dass Archias die Rechte eines römischen Bürgers wie den Abschluss von Testamenten und die Annahme von Erbschaften ausgeübt habe und mit staatlichen Gratifikationen bedacht worden sei: et testamentum saepe fecit nostris legibus et adiit hereditates civium Romanorum et in beneficiis ad aerarium delatus est a L. Lucullo pro consule. (11)
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Zweiter Teil der Argumentatio

Im zweiten Teil seiner argumentatio (12-30) gibt Cicero den durch die juristische Klärung des Falles eng gesteckten Referenzrahmen seiner Rede auf und geht auf das literarische Talent des Archias ein, wobei seine Gedanken nicht ausschließlich bei der Person des Dichters verweilen, sondern grundsätzlich den Stellenwert geistiger Bildung für die Formung des Charakters eines Menschen und die Bedeutung der literarischen Darstellung außergewöhnlicher geschichtlicher Taten für deren Nachleben im Bewusstsein eines Volkes in den Blick nehmen. Ciceros Rede wird an dieser Stelle zu einem Lobpreis des Archias und der geistigen Bildung und zeigt die Eigentümlichkeiten des genus demonstrativum.

Ausgehend von der Frage, warum wir uns so sehr von einem Menschen wie Archias angezogen fühlen (cur tanto opere hoc homine delectemur: 12), legt Cicero dar, welchen persönlichen Nutzen er aus seiner Beschäftigung mit der Literatur gezogen hat. Hierbei ist es ihm ein Anliegen, einerseits die Erholung schenkende und die rhetorischen Fähigkeiten beflügelnde Wirkung literarischer Studien, andererseits deren unverzichtbaren Beitrag zum Aufbau höchster moralischer Werte hervorzuheben, wie sie für ein politisches Handeln zum Wohle der Gemeinschaft notwendig sind. Cicero führt seine eigenen Wertmaßstäbe auf seine geistige Bildung zurück (illa quidem certe, quae summa sunt, ex quo fonte hauriam, sentio: 13) und gleichfalls seine Erkenntnis bezüglich des wesentlichen Ziels menschlichen Lebens, nach Ruhm (laudem) und ehrenhaftem Handeln (honestatem) zu streben. Er räumt in diesem Kontext ein, dass eine außerordentliche und glänzende Naturanlage selbstverständlich eine notwendige Bedingung für eine Entwicklung des Menschen auf seinem Weg zur Vollkommenheit sei, aber eine entsprechende geistige Bildung sich als eine unverzichtbare Begleiterin erwiesen habe, wie berühmte Persönlichkeiten aus vergangenen Zeiten deutlich machten: atque idem ego hoc contendo, cum ad naturam eximiam et inlustrem accesserit ratio quaedam conformatioque doctrinae, tum illud nescio quid praeclarum ac singulare solere existere. ex hoc esse hunc numero, quem patres nostri viderunt, divinum hominem, Africanum, ex hoc C. Laelium, L. Furium, moderatissimos homines et continentissimos, ex hoc fortissimum virum et illis temporibus doctissimum, M. Catonem illum senem. (16)

Im Anschluss an diese allgemeinen Überlegungen zum Wert geistiger Bildung, nimmt Cicero nun eine Konkretisierung seines Gedankengangs vor, insofern er das dichterische Talent des Archias hervorhebt, das sich nach seiner Einschätzung mit dem der erlauchten Dichter der Vergangenheit messen kann (quae vero adcurate cogitateque scripsisset, ea sic vidi probari, ut ad veterem scriptorum laudem perveniret: 18) und dem es zu verdanken ist, dass außerordentliche römische Taten wie der Sieg des L. Lucullus im dritten Mithridatischen Krieg (74-63 n.Chr.) eine angemessene Würdigung in einem dichterischen Werk erfahren haben. Hierbei ist es für Cicero wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Lobpreis der geschichtsträchtigen Taten einzelner Römer durch den Mund der Dichter immer auch ad maiorem gloriam populi Romani erfolgt ist: Nostra sunt tropaea, nostra monimenta, nostri triumphi. Quae quorum ingeniis efferuntur, ab eis populi Romani fama celebratur. (21) Die Frage nach dem Bürgerrecht des Dichters beantwortet sich aus dieser Perspektive von selbst: Wenn Archias das Bürgerrecht nicht besäße, müsste es ihm allein aufgrund seiner Verdienste um die römische Sache verliehen werden. Mit einer rhetorischen Frage versucht Cicero zu verdeutlichen, dass es bei näherer Betrachtung anderer vergleichbarer Präzedenzfälle nicht nachvollziehbar sei, wenn ein Streit um Archias' Bürgerrecht geführt werde: nos hunc vivum, qui et voluntate et legibus noster est, repudiabimus? praesertim cum omne olim studium atque omne ingenium contulerit Archias ad populi Romani gloriam laudemque celebrandam? (19)

Dass Cicero dem antiken Ruhmesgedanken auch mit Blick auf die eigene Person verhaftet ist, wenn es darum geht, sich als Mensch und Politiker hinsichtlich der uneigennützigen Verdienste um die res publica ein ehrendes Andenken im kollektiven Bewusstsein künfiger Generationen zu sichern, veranschaulicht der letzte Teil der argumentatio dieser Rede, in dem Cicero, ausgehend von der Bestimmung des Ruhms als eines generellen Antriebs zum Handeln, auf die Zeit seines vom Einsatz um das Wohl aller Bürger geprägten Konsulates ein Jahr zuvor rekurriert, dessen verherrlichende Darstellung Archias bereits begonnen hat: nam quas res nos in consulatu nostro vobiscum simul pro salute huiusce imperi et pro vita civium proque universa re publica gessimus, attigit hic versibus atque inchoavit. (28) Auf diese Weise bringt Cicero zum Ausdruck, wie sehr er sich mit seinem Mandanten identifiziert, und versucht unter dem Hinweis auf seine eigene verdienstvolle Stellung im Staat Schutz für Archias zu erwirken. Cicero legt keinen Wert auf Bildnisse und Statuen, die lediglich das Äußere eines Menschen für die Nachwelt festhalten, vielmehr ist es für ihn entscheidend, ob die Gedanken und Leistungen eines Menschen zur ewigen Erinnerung (in […] memoriam sempiternam: 30) erhalten bleiben: consiliorum relinquere ac virtutum nostrarum effigiem nonne multo malle debemus, summis ingeniis expressam et politam? (30) Und genau dieses traut er A. Licinius Archias zu.
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Peroratio

In der peroratio (31-32) bleibt Cicero verhalten; er versteigt sich nicht zu einem die Richter beschwörenden Pathos, sondern rekapituliert präzise den gesamten Inhalt seines Vortrags, indem er aufzeigt, dass die Würde und die literarischen Leistungen des Angeklagten sowie die causa selbst einen Freispruch nahelegen. In einer die Rede beendenden captatio benevolentiae bittet Cicero im Rückgriff auf die Einleitung um Verständnis, dass er von der bei Gericht üblichen Redeweise abgewichen sei (remota a mea iudicialique consuetudine) und das Talent (de hominis ingenio) des Angeklagten sowie seine künstlerische und wissenschaftliche Tätigkeit (de ipsius studio) thematisiert habe.
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Bezug zur Gegenwart

Ciceros Rede Pro Archia poeta besitzt bleibende Aktualität. In einer Zeit, in der viel über Bildung diskutiert wird und immer neue Bildungskonzepte in ihrer raschen Abfolge eher Verwirrung als Transparenz stiften, tragen Ciceros Gedanken über das Wesen und den Stellenwert geistiger Bildung dazu bei, in dem bildungspolitischen Diskurs auf das antike Erbe als das Fundament der abendländischen Bildungstraditionen aufmerksam zu werden und die zentrale Frage zu beantworten, was Menschenbildung heute ausmachen sollte. Dass sich in diesem Kontext die nicht unwichtige, aber oft vernachlässigte Frage nach dem Wesen des Menschen stellt, sollte hierbei nicht verschwiegen werden.