Tacitus, Annales 16: Der Tod des Thrasea Paetus

Übersetzung und Einführungstext von Rainer Lohmann


Moderne Statue des Tacitus
(Quelle: Wikimedia Commons)

Mit dem Bericht über den Tod des Stoikers Thrasea Paetus enden die als Fragment auf uns gekommenen Annalen des Tacitus. Die Stellen in den Annalen, an denen Thrasea Paetus Erwähnung findet – es handelt sich hierbei um Reden vor den Senatoren –, lassen die Sympathie des Historikers mit dem Stoiker Thrasea erkennen, dessen Charakterfestigkeit und Standhaftigkeit in der Konfrontation mit den Widrigkeiten der Despotie Neros ihn zu einem geistig- moralischen Vorbild erheben. Thrasea Paetus und Barea Soranus als Vertreter der stoischen Oppositionsbewegung sind maßgebliche Säulen des Widerstandes gegen den Tyrannen Nero und sein Menschen verachtendes Gebaren. Die hohe Wertschätzung des Tacitus für Thrasea Paetus kommt in den Worten zum Ausdruck, die der sterbende Thrasea an den anwesenden Quästor richtet, der namentlich nicht genannt ist, und die ihn auffordern, sich in schwierigen Zeiten an den Beispielen für standhaftes Verhalten zu orientieren: ceterum in ea tempora natus es, quibus firmare animum expediat constantibus exemplis (16,35,1). Thrasea Paetus und Barea Soranus sind für Tacitus so sehr die Repräsentanten einer von Aufrichtigkeit und Bekennermut geprägten Geisteshaltung, dass er mit ihrem Tod auf Neros Geheiß die Tugend selbst bedroht sieht: Trucidatis tot insignibus viris ad postremum Nero virtutem ipsam exscindere concupivit interfecto Thrasea Paeto et Barea Sorano (16,21,1).

Aufbau

Tacitus' Bericht über den Prozess gegen Thrasea Paetus und Barea Soranus weist eine klare Struktur auf und gliedert sich in drei längere Abschnitte.

Erster Abschnitt (Übersetzung)

Der erste Abschnitt, der die Kapitel 21-23 umfasst, beinhaltet eine Einleitung zu dem eigentlichen Verfahren gegen die beiden Stoiker und benennt die Vorwürfe, die der Senator Capito Cossutianus erhebt. Thrasea Paetus wirft er eine Verletzung seiner Amtspflichten vor und sein despektierliches Verhalten gegenüber dem Kaiser, das sich vor allem in seiner mangelnden Sorge um Neros Wohlbefinden und in seiner Verachtung der Erfolge des Kaisers äußere: prospera principis respuit (16,22,3). Auch die Aufrichtigkeit der vom Stoizismus geprägten Grundhaltung Thraseas stellt Cossutianus in Frage, wenn er dessen Rigorosität und Unnachgiebigkeit anzweifelt und als bloß vorgetäuscht betrachtet und ihm somit unterstellt, die Lebensweise Neros zu diskreditieren und ihm ein ausschweifendes Verhalten vorzuwerfen. Cossutianus erblickt in dem Vorgehen Thraseas einen Angriff auf die kaiserliche Herrschaft unter dem Deckmantel der Freiheit, die in Wahrheit aber gar keine sei, was ein möglicher Erfolg Thraseas zeigen werde: ut imperium evertant, libertatem praeferunt: si perverterint, libertatem ipsam adgredientur (16,22,4).

Mit Blick auf Soranus gibt Tacitus die schon vor einiger Zeit erfolgte Anklage des römischen Ritters Ostorius Sabinus wieder, die sich auf seine Amtsführung während seines Prokonsulates in Asien bezieht: Er ergreife zu sehr Partei für die Anliegen der Provinzialen, um sich möglicherweise die Provinz für einen möglichen Umsturz geneigt zu machen: sed crimini dabatur […] ambitio conciliandae provinciae ad spes novas (16,23,1). Als Prozesstermin wird die Ankunft des Armenierkönigs Tiridates in Rom festgelegt, der aus der Hand Neros die Königskrone entgegennehmen möchte. Tacitus schließt diesen ersten Teil mit dem sarkastischen Kommentar, der armenische König habe dann die Gelegenheit, die kaiserliche Größe Neros durch die Ermordung hervorragender Männer mittels einer Despotentat kennen zu lernen: an ut magnitudinem imperatoriam caede insignium virorum quasi regio facinore ostentaret (16,23,2).
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Zweiter Abschnitt (Übersetzung)

Im zweiten Abschnitt (Kapitel 24-29) berichtet Tacitus über die Vorbereitungen des Gerichtsverfahrens im Senat und die Anklage gegen Thrasea Paetus und andere Mitglieder der stoischen Opposition durch den Senator Marcellus Eprius, einen scharfen Wortführer der dem Kaiser unbedingt ergebenen Richtung. Da ein Brief Thraseas an den Kaiser die von ihm erhoffte Sinnesänderung Thraseas hat vermissen lassen, ruft der Kaiser den Senat zur Gerichtssitzung zusammen, an der Thrasea nach Beratung mit seinen Freunden nicht teilnehmen möchte. Auch ein Angebot des Volkstribunen Rusticus Arulenus, gegen den Senatsbeschluss Einspruch zu erheben, lehnt er mit dem Hinweis ab, er, Thrasea, habe sein Leben gelebt und wolle bei der einmal gewählten Lebensform bleiben, während der Volkstribun seine politische Laufbahn noch vor sich habe: sibi actam aetatem, et tot per annos continuum vitae ordinem non deserendum: illi initium magistratuum et integra, quae supersint (16,26,5). Allerdings hält er für Rusticus Arulenus die Mahnung bereit, sich sorgfältig zu überlegen, auf was er sich bei seiner Entscheidung, sich politisch betätigen zu wollen, angesichts der komplizierten Zeitumstände einlasse: Multum ante secum expenderet, quod tali in tempore capessendae rei publicae iter ingrederetur (16,26,5).

Für den Tag des Prozesses selbst lässt Nero in der näheren und weiteren Umgebung der Kurie, in welcher der Prozess stattfindet, durch den Einsatz von Soldaten in unterschiedlicher Formation eine außergewöhnliche militärische Drohgebärde aufbauen, deren Ziel es ist, die Senatoren mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln einzuschüchtern und sie von vornherein zu einem gefälligen Verhalten zu bewegen: inter quorum adspectus et minas ingressi curiam senatores (16,27,1). Koestermann schreibt in seinem Tacituskommentar hierzu: "Man kann daraus ermessen, welche Befürchtungen Nero hegte im Hinblick auf die Suggestionskraft, die von der Persönlichkeit Thraseas ausging, und welcher Autorität dieser sich im Senat erfreute." (Erich Koestermann: Tacitus, Annalen: Kommentar Bd. IV (Buch 14-16), Heidelberg 1968, S. 391 f.)

Im Zentrum des Prozesses steht die in Abwesenheit Neros mit schneidender Schärfe vorgetragene Rede des Senators Marcellus Eprius gegen die Angeklagten Thrasea Paetus und dessen Schwiegersohn Helvidius Priscus, gegen Paconius Agrippinus und Curtius Montanus. Die bereits in Kapitel 22 gegen Thrasea Paetus vorgebrachten Punkte finden hier in einer rhetorischen Zuspitzung durch "drei enumerative Asyndeta" (Erich Koestermann, a.a.O., S. 395) ihre Wiederholung: requirere se in senatu consularem, in votis sacerdotem, in iure iurando civem, nisi contra instituta et caerimonias maiorum proditorem palam et hostem Thrasea induisset (16,28,2). Marcellus' Rede kulminiert in seinem Vorwurf, Thrasea zeige sich indifferent gegenüber den Leistungen und Errungenschaften des römischen Staates, deren er sich durch sein abwertendes Verhalten als unwürdig erweise: non illi consulta haec, non magistratus aut Romanam urbem videri (16,28,3).

Tacitus' Resümee bezüglich der von Marcellus vorgetragenen Rede fällt eindeutig aus: Angesichts der durch das militärische Aufgebot erzeugten physischen Gewalt mussten sich die Senatoren erpresst fühlen und konnten nicht anders entscheiden, als dem Antrag des Marcellus ihre Zustimmung zu geben, mag ihnen auch das verehrungswürdige Bild Thraseas vor Augen gestanden haben: simul ipsius Thraseae venerabilis species obversabatur (29,2). Der Senat hat seine juristische Unabhängigkeit verloren und wird zu einem Machtinstrument des Kaisers zur beliebigen Durchsetzung seiner Herrschaftsinteressen degradiert.
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Dritter Abschnitt (Übersetzung)

Im dritten Abschnitt seiner Darstellung (Kapitel 30-35) greift Tacitus die Anklage gegen den Stoiker Soranus und dessen noch junge Tochter Servilia auf (Kapitel 30-33), um abschließend auf den Tod des Thrasea Paetus zu sprechen zu kommen (Kapitel 34-35). Damit bricht der Bericht des Tacitus ab. Der Schluss der Annalen, der die Ereignisse der Jahre 67 und 68 enthielt, ist verloren gegangen. Über seinen Inhalt kann nur gemutmaßt werden.

Während Tacitus auf die Vorwürfe gegen Soranus nur kurz eingeht – im Wesentlichen geht es um den Vorwurf persönlicher Bereicherung zur Zeit seines Prokonsulates in Asien –, schenkt er der Darstellung der Vorgänge um Soranus' Tochter Servilia mehr Raum. Die Anklage wirft Servilia vor, Magiern Geld gegeben zu haben, um durch sie das künftige Geschick ihrer eigenen Familie in Erfahrung zu bringen. Tacitus schildert Servilias Auftreten vor dem Senat mit erkennbarer innerer Anteilnahme, indem er ihre Loyalität gegenüber ihrem Vater (pietate Serviliae: 16,30,2) und ihr Schuldbewusstsein (et si crimen est, sola deliqui: 16,31,2) hervorhebt, das letztlich dazu dient, den Vater von dem Vorwurf der Verstrickung in das Vergehen der Tochter freizusprechen. Koestermann spricht mit Blick auf Tacitus' feinfühlige Charakterzeichnung Servilias von dem "Bedürfnis, der noblen Gesinnung, wie sie sich in Barea, der virtutem ipsam verkörperte (cap. 21,1), und seiner Tochter so eindeutig manifestierte, ein leuchtendes Denkmal zu setzen. Zugleich sollen Nero und seine Handlanger an den Pranger gestellt werden, die ungerührt durch solche Szenen an ihrem Schandspruch festhielten." (Erich Koestermann, a.a.O., S. 400 f.) Als Gegenbeispiel führt Tacitus den Belastungszeugen P. Egnatius an, der sich bestechen ließ, um gegen seinen Freund Soranus auszusagen. Er unterzieht das Verhalten des P. Egnatius einer vernichtenden Kritik (auctoritatem Stoicae sectae praeferebat: 16,32,3) und erblickt in ihm einen Vertreter der moralischen Depravation der Zeit, in der das Bekenntnis zu einer tugendhaften Lebensführung lediglich als Deckmantel für heuchlerisches und verräterisches Betragen fungiert (dedit [sc. P. Egnatius] exemplum praecavendi, quo modo fraudibus involutos aut flagitiis commaculatos, sic specie bonarum artium falsos et amicitiae fallaces: 16,32,3).

Der Versuch des Soranus, die Senatoren dazu zu bewegen, das Verfahren gegen seine Tochter von dem seinigen zu trennen (nimiae tantum pietatis ream separarent: 16,32,1), bleibt ohne Erfolg: Thrasea, Soranus und Servilia werden zum Tode verurteilt, wobei sie die Todesart frei wählen können (Thraseae Soranoque et Serviliae datur mortis arbitrium: 16,33,2).

Mit Kapitel 34 kehrt Tacitus zu Thrasea Paetus und dessen Lebensende zurück, das er in düsteren Farben zeichnet, um der Unausweichlichkeit des Schicksals Ausdruck zu verleihen. In seiner letzten Stunde stehen ihm einige Freunde bei, und Thrasea selbst richtet mahnende Worte an seine Gattin Arria, sich nicht an dem Beispiel ihrer Mutter zu orientieren, die ihrem Gatten in den Tod gefolgt war, sondern am Leben zu bleiben und für die gemeinsame Tochter zu sorgen (Arriamque … monet retinere vitam filiaeque communi subsidium unicum non adimere: 16,34,2). Nachdem Thrasea durch einen Quästor über den Senatsbeschluss in Kenntnis gesetzt worden ist, lässt er sich durch einen Arzt die Adern öffnen. Sein Tod ähnelt dem Tod Senecas, mit dem ihn die stoische Philosophie verbindet. Thraseas Nähe zum Stoizismus spiegeln auch seine letzten Worte wider, die den anwesenden Quästor auf die Bedeutung einer standhaften Haltung (constantibus exemplis: 16,35,1) angesichts einer an politischen Unwägbarkeiten reichen Gegenwart verweisen. Mit seinem Leben und Sterben hat Thrasea Paetus diese constantia eindrucksvoll bezeugt und ein überzeugendes Beispiel für die Übereinstimmung von Lehre und Leben hinterlassen.
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